Geschichte und Gedächtnis

  • 18.05.2016
  • 18.00 Uhr
  • Deutsches Historisches Institut Moskau, ul. Voronzovskaya, 8, str. 7
  • Methoden und Tendenzen in der europäischen Geschichtswissenschaft

Johannes Fried (Goethe-Universität Frankfurt am Main):

Gedächtnis und Geschichtswissenschaft

Vortrag auf Deutsch mit Simultanübersetzung

Ilya Andronow (Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität, Historische Fakultät):

Usurpatio memoriae, oder Denker gegen Bewusstsein: Beispiele aus der Praxis

Vortrag auf Russisch mit Simultanübersetzung

Abstracts

Irritationen des Historikers durch das Gedächtnis

Untersuchungen der Erinnerungen von Augenzeugen eines Geschehens, die in gewissen zeitlichen Abständen sich wiederholt erinnerten, ohne auf die früheren Erinnerungen zurückzugreifen, zeigen rasche mehr oder minder starke Verformungen des Erinnerten. Sie setzen bereits bei der Wahrnehmung ein, sind durch Versprachlichung des Gesehenen wirksam und unterliegen jeweils den Konditionen des Abrufs. Der „false-memory“-Effekt macht sich hier also besonders deutlich bemerkbar. Neurowissenschaften können erklären, warum dem so ist, worauf hier aber nur verwiesen werden soll. Historiker indessen, die weithin auf Erinnerungszeugnisse angewiesen sind, um vergangenes Geschehen zu erforschen, beachten diesen Effekt gewöhnlich nicht in zureichendem Maße. Die Folgen sind unzutreffende Geschehenskonstrukte bereits in den sogenannten Quellen. Gedächtniskritische Forschung, die um jene Deformationsformen weiß, kann erfolgreich versuchen, die Fehler zu heilen. An einigen Beispielen (der Philosoph Karl Löwith, Hitlers Minister Albert Speer u.a.) soll dies verdeutlicht werden.

Usurpatio memoriae, oder Denker gegen Bewusstsein: Beispiele aus der Praxis

Obwohl das Gedächtnis für die historische Forschung keine Quelle darstellt, wirkt es jedoch auf jeden, der sich der Geschichte zuwendet, mannigfach ein. Diese Einwirkung kann vielfältig und sogar widersprüchlich sein. Allerdings ist es selbst für professionelle Historiker, die persönliche Erinnerungen meistens aus dem Prozess der Vergangenheitsrekonstruktion ausschließen wollen, äußerst schwierig, sie völlig zu vermeiden oder zu nivellieren. Politische Theoretiker des 19. Jahrhunderts waren in der Regel bestrebt, ihre Theoriegebäude mit einer historischen Basis auszustatten. Einige von ihnen (z.B. Marx) versuchten, sie mithilfe globaler historischer Konstrukte zu untermauern. Andere (z.B. Mazzini) stützten sich auf ein – auf Kosten von historischer Kenntnis – um eigene reiche Erfahrungen „erweitertes” Bild. Beim Versuch, das aus historischer Forschung und aus dem Gedächtnis Erhaltene zusammenzubringen, ist ein Denker gezwungen, das Eine dem Anderen anzupassen. Beispiele für die gegenseitige Einwirkung von Gedächtnis und Bewusstsein kann man in der Praxis jedes Historikers finden.

Literaturhinweise

Андронов И. Е. Джузеппе Мадзини: молодые годы. СПб, 2009
Борхес Х. Л. История вечности // Письмена Бога. М., 1992
Коллингвуд Р. Дж. Идея истории. Автобиография. М., 1980
Рикер П. Память, история, забвение. Ч. 1. М., 2004
Fried J. Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. 2. Aufl. München 2012
Fried J. Erinnerung im Kreuzverhör. Kollektives Gedächtnis, Albert Speer und die Erkenntnis erinnerter Vergangenheit, in: Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse (FS für Lothar Gall), hrsg. von Dieter Hein u.a. München 2006, S. 327-357
Markowitsch H.J. Das Gedächtnis. Entwicklung, Funktionen, Störungen. München 2009
Markowitsch H.J., Welzer H. The development of autobiographical memory. New York 2010

Anmeldung bis 16. Mai 2016 bei maria.tschassowskaja@dhi-moskau.org