Das Unüberlebbare überleben und das Unlesbare lesen: Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau und seine Schriftstücke.
Die Mitglieder des „Sonderkommandos“ – eine Arbeiterbrigade, die die Nazis dazu nötigten, ihnen bei der maßenweisen Tötung von hunderttausenden Menschen zu assistieren – waren vor allem Juden. Sie assistierten in Gaskammern, Krematorien und bei der Verwertung der Asche der Getöteten, ihrer Goldzähne und Haare. Dass diese Menschen am 7. Oktober 1944 den Aufstand proben und dabei eines der Krematorien zerstören würden, dass einige von ihnen die Schoa überleben würden, konnten sich die Nazis in ihren schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen. Etwa 110 dieser 1800 Mitglieder des „Sonderkommandos“ blieben am Leben und einige von ihnen schrieben vom Erlebten oder gaben Interviews.
Allerdings hinterließen auch viele der Opfer Schriftstücke, von denen ein Teil nach dem Kriegsende in der Erde oder Asche in der Nähe der Krematorien von Auschwitz-Birkenau gefunden wurde. Diese „Schriften aus der Asche“ – fraglos zentrale Dokumente des Holocausts und bis vor Kurzem völlig unbekannt in Russland – erschienen erstmals vollständig und unzensiert in russischer Übersetzung im Verlag „Feniks“ 2013 (und 2015 mit Kommentaren im Verlag „AST“).
Vier der fünf Autoren, deren Schriftstücke uns erreicht haben – die polnischen Juden Zalman Gradovskij, Zalman Levental‘, Lejb Langfus und Chajm Cherman – sind umgekommen, einer von ihnen – der griechische Jude Marsel‘ Nadždari – wurde befreit und überlebte. Um ihn geht es, um Marsel‘ Nadžari, um sein erstaunliches persönliches Schicksal und das seiner hinterlassenen Schriften, die im Buch „Schriften aus der Asche“ einen verhältnismäßig kleinen Teil einnehmen. Seine Erinnerungen wurden erst 1980, also später als alle anderen gefunden und lagen 36 Jahre in der Erde. Deshalb ist auch nicht verwunderlich, dass sie schlechter erhalten und weniger lesbar als alle anderen sind: lediglich 10-15%. Erst durch die Aufbereitung von Nadžaris Erinnerungen mit modernen Methoden, konnten bis zu 85-90% wiederhergestellt und lesbar gemacht werden. Über dieses kleine Wunder, die damit verbundenen Technologien und seinen Urheber, den IT-Enthusiasten Aleksandr Nikitjaev aus Tula, und ebenso über die mit diesem Durchbruch verbundenen perspektivischen Entwicklungen, wird es im zweiten Teil der Vorlesung gehen.