GiD Lab: Erinnerungskulturen in Deutschland, Polen und Russland – Nachbericht und Video

Dieser Nachbericht wurde von Lukas Beichler verfasst. Er studiert Vergleichende Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg und ist Wissenschaftliche Hilfskraft im Referat Öffentlichkeitsarbeit der Max Weber Stiftung.

Die jüngste Veranstaltung aus der Reihe „Geisteswissenschaft im Dialog“ (GiD) widmete sich am 27. Januar 2021 unter dem Titel „Erinnerungskulturen im Zeichen von geschichtspolitischem Stress“ den aktuellen Herausforderungen des Gedenkens an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg in Deutschland, Polen und Russland. Die Kooperationsveranstaltung der Max Weber Stiftung mit ihrem Deutschen Historischen Institut in Moskau sowie der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn fand im Online-Format statt. Für all diejenigen, die die Podiumsdiskussion verpasst haben: Die Aufzeichnung und einen Nachbericht gibt es jetzt hier auf dem Blog. 

Seit 25 Jahren wird am 27. Januar in Deutschland der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ begangen. Das Datum verweist auf die Befreiung der überlebenden Insassen des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945. Daran zeigt sich der zentrale Stellenwert, den der Holocaust in der deutschen Gedenkkultur einnimmt. Zwar wird schon seit einigen Jahren das Anliegen sichtbar, der Pluralität der Opfergruppen an diesem Tag Rechnung zu tragen. Der entscheidende Zusammenhang zwischen dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere dem Vernichtungskrieg im östlichen Europa, ist jedoch ein Randthema im öffentlichen Gedenken in Deutschland geblieben.

So stellen sich mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs neue Fragen an das Erinnern: Wie kann eine Erinnerungskultur aussehen, die eine Hierarchisierung der Opfergruppen vermeidet und zugleich den internationalen Austausch über die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ermöglicht? Diese Frage stellt sich umso mehr, wenn man die Perspektive auf Deutschlands Nachbarn ausweitet. In Polen und in Russland konnten in den vergangenen Jahren verstärkte Versuche der Regierenden beobachtet werden, die lebendige Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg in ihren Ländern für außen- oder identitätspolitische Ziele zu instrumentalisieren. Zugleich stehen alle drei Gesellschaften gleichermaßen vor der Herausforderung, neue Wege für das Gedenken nach dem Ableben der letzten Zeitzeugen zu finden. Wie lassen sich jüngere Generationen für die Geschichte der deutschen Verbrechen sensibilisieren?

Włodzimierz Borodziej, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau

Sowohl die internationale, als auch die intergenerationelle Dimension der derzeitigen Erinnerungskulturen waren Gegenstand der Diskussionsrunde von Geisteswissenschaft im Dialog. Der Warschauer Historiker Włodzimierz Borodziej, der jüngst für seine wissenschaftliche Vermittlungsarbeit zwischen Polen und Deutschland mit dem Internationalen Forschungspreis der Max Weber Stiftung beim Historischen Kolleg ausgezeichnet worden ist, sowie Sandra Dahlke, Direktorin des Deutschen Historischen Instituts Moskau, boten Einblick in die aktuellen geschichtspolitischen Entwicklungen in Polen und Russland. Hera Shokohi, die an der Universität Bonn im Master Osteuropäische Geschichte studiert, erweiterte die Diskussion um die Perspektive der lokal verwurzelten, zivilgesellschaftlichen Erinnerungsarbeit in Deutschland. Moderiert wurde die Veranstaltung von Ekaterina Makhotina, Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Universität Bonn.

Im Hinblick auf die polnische Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg konstatierte Włodzimierz Borodziej eine Dreiteilung der Öffentlichkeit, die zu einem hohen Maß entlang der politischen Trennlinien verlaufe: Eine Mehrheit der Polen halte am tradierten Geschichtsverständnis von Polen als dem von allen Seiten geschädigten Sonderfall unter den europäischen Nationen fest. Dieser Teil reagiere mit Aversion auf Forschungsergebnisse, die auch die Verstrickungen von Polen thematisieren und sehe sich bis heute von „Brüssel“ und den Westeuropäern missachtet. Demgegenüber stünde ein liberales Lager, dass sich um eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Geschichte Polens im Zweiten Weltkrieg bemühe, ohne hieraus einen Sonderstatus Polens für die Gegenwart ableiten zu wollen. Dieser Teil der polnischen Öffentlichkeit lehne die Geschichtspolitik der PIS ab und kritisiere den Warschauer Gerichtsprozess gegen zwei Holocaustforscher. Trotz dieser Polarisierung existiere jedoch noch ein dritter Teil der polnischen Gesellschaft, der den geschichtspolitischen Kontroversen völlig desinteressiert gegenüberstünde.

Die Historikerin Sandra Dahlke leitet das Deutsche Historische Institut Moskau.

Die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, trifft nach wie vor auf ein großes Interesse in der russischen Gesellschaft. Sandra Dahlke erklärte dies mit den enormen Opferzahlen, die der Krieg auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gefordert hat. Nahezu jede Familie habe Verluste zu betrauern gehabt und diese individuellen Familienschicksale bildeten bis heute Anknüpfungspunkte für das gesellschaftliche Gedenken. Im Unterschied dazu habe die offizielle Geschichtspolitik in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Konjunkturzyklen erlebt, wobei ihre Bedeutung in den letzten Jahren stark zugenommen habe. Als ein Höhepunkt dieser Entwicklung erscheint Wladimir Putins Artikel aus dem Sommer 2020, der als Versuch der russischen Regierung gedeutet werden kann, die internationale Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsordnung zu beeinflussen. Diese geschichtspolitische Offensive belaste zunehmend die außenpolitischen Beziehungen zu den Nachbarstaaten, vor allem Polen und den baltischen Staaten, wo die Relativierung des Hitler-Stalin-Paktes als Provokation empfunden werde. Die Bilder vom gemeinsamen Gedenken Donald Tusks und Wladimir Putins in Katyn 2010 wären heute nur noch schwer vorstellbar, schloss Dahlke.

Hera Shokohi. Die Bonner Geschichtsstudentin plädierte für neue Wege in der Geschichtsvermittlung.

Dass auch die breite und vielfältige Gedenkkultur in der Bundesrepublik nicht immer frei von politischen Opportunitätserwägungen sei, thematisierte Hera Shokohi in ihrem Eingangsstatement. So habe der Schwerpunkt der Gedenkveranstaltung der Stadt Bonn am 27. Januar 2020, der auf dem Schicksal verfolgter Musikerinnen und Musiker lag, zwar hervorragend zum Beethovenjubiläum und zur Inszenierung Bonns als Musikstadt gepasst, dem Gedenken an andere Opfergruppen aber keinen Platz eingeräumt. Die oft selektiven Gedenkrituale von Stadt und Universität stünden im Kontrast zu einer Vielzahl von Graswurzelinitiativen, studentischen Gruppen oder Einzelakteuren, die im lokalen Rahmen die Schicksale von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, verfolgten Homosexuellen, Sinti und Roma und anderen Opfern der Nationalsozialisten wach hielten. Ohne das Feld der zivilgesellschaftlichen Erinnerungskultur verklären zu wollen, plädierte Shokohi dafür, die hier ausprobierten Erinnerungsformen als Ansätze für eine vielfältigere, repräsentativere Gedenkkultur aufzugreifen.

Mit Blick auf Polen war Włodzimierz Borodziej deutlich skeptischer, was die Wirkungsmöglichkeiten einer Erinnerungskultur „von unten“ anbelangt. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in den Familien werde stets von der Verortung in die politischen Lager mitkonfiguriert. Dies gelte umso mehr, da es kaum noch Zeitzeugen gebe, die den medialen Auseinandersetzungen ihre authentischen Erfahrungsberichte entgegenhalten könnten. Auch die Historikerinnen und Historiker seien nur in sehr begrenztem Umfang dazu in der Lage, Einfluss auf die konfrontativen Geschichtsnarrative zu nehmen.

So eindeutig mochte Sandra Dahlke das Verhältnis von staatlicher Geschichtspolitik zur gesellschaftlichen Erinnerung nicht verstehen. Zwar müssten sich in Russland alle Akteure zu dem geschichtspolitischen Rahmen verhalten, doch gebe es auch ein Bedürfnis in Teilen der Bevölkerung jenseits des staatlichen Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg zu erinnern und etwa Material aus der Familie zu historischen Dokumentationen beizusteuern.

Die Erinnerungskultur in Deutschland weise nach wie vor blinde Flecken auf, was den deutschen Vernichtungskrieg im Osten betrifft. So sei erst seit 2015 die große Opfergruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen thematisiert worden, das Schicksal der Leningrader Bevölkerung hingegen sei nach wie vor nur wenig bekannt. Allerdings warnte sie davor, das Gedenken in Deutschland mit dem Ziel der Repräsentativität zu verknüpfen. Es sei schon viel gewonnen, wenn aus der Beschäftigung mit der Geschichte das Verständnis für die Vielfalt von Erfahrungen und Zugängen erwachse.

Hier lassen die Bildungsinstitutionen und die Geschichtswissenschaft noch zu viel Potenzial ungenutzt. Darauf wies Hera Shokohi hin. Sie schlug vor, die gewandelten Lebensrealitäten und Medienformate ernst zu nehmen und für die Geschichtsvermittlung fruchtbar zu machen. Shokohi selbst nutzt Instagram, um über Gedenktage und Grundbegriffe der Geschichte aufzuklären und Informationen hierzu zugänglich zu machen. Außerdem lasse sich die heutige Pluralität der jungen deutschen Generationen nutzen, um im Geschichtsunterricht oder in lokalen Projekten ein empathisches Verständnis für die Geschichten der Opfer von Holocaust, Zwangsarbeit und kolonialer Gewalt im 20. Jahrhundert zu wecken. Als Beispiel, das in diese Richtung weise, nannte sie Projekte, in denen sich junge Menschen dem Thema Holocaust über die eigenen oder familiären Fluchterfahrungen näherten.

Ekaterina Makhotina, die zu den Erinnerungskulturen Russlands und Litauens geforscht hat, moderierte die Diskussion.

Ekaterina Makhotina stellte die Frage, ob es ausreiche, wenn Historikerinnen und Historiker vor allem die Mannigfaltigkeit historischer Erfahrungen und Perspektiven in den Vordergrund stellen. Nach wie vor seien es doch vor allem die jeweiligen nationalen Identitäten, die für viele Menschen in Europa den Antrieb darstellen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wie schwierig es sein kann, an die deutschen Verbrechen im östlichen Europa zu erinnern, ohne die Konkurrenz nationaler Sichtweisen zu befördern, zeigt sich derzeit exemplarisch an der Debatte über ein neues Dokumentationszentrum für alle Opfer des deutschen Vernichtungskrieges, für das sich der Bundestag im Oktober 2020 ausgesprochen hat und das in Berlin entstehen soll.

In Polen und Russland ist diese deutsche Diskussion bislang kaum angekommen. Gerade in Russland gebe es unter den jungen Menschen auch eine Tendenz, Räume und Identitäten zu suchen, die unbelastet von der Vergangenheit und der Geschichtspolitik sind, berichtete Dahlke. Das sei auch verständlich, denn in vielen Regionen Russlands seien Jugendliche mit einem Zukunftsdefizit konfrontiert. Borodziej ergänzte für Polen, dass es zwar einen kleinen Teil der Bevölkerung gebe, der der deutschen Erinnerungskultur ehrliches Interesse entgegenbringe. Doch könne diese für Polen aufgrund der ganz anderen Rolle im Zweiten Weltkrieg nicht beispielgebend sein. Beide waren sich darin einig, dass sich die nationalen Geschichtsnarrative im östlichen Europa auch deshalb hartnäckig hielten, weil der damit einhergehende Opferstatus vielfach als konstitutiv für die eigene Staatlichkeit nach 1989 angesehen werde. Hoffnung machte allen Beteiligten, dass sich die gesellschaftliche Wahrnehmung der Vergangenheit dennoch immer wieder offen für neue Perspektiven erweise, auch wenn dies viel stärker vom Erfolg von Romanen und guten Spielfilmen abhänge, als von den Ergebnissen geschichtswissenschaftlicher Forschung.

Martin Aust hat den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Uni Bonn inne. Er integrierte die GiD-Diskussion in sein Hauptseminar „Der deutsche Vernichtungskrieg im östlichen Europa 1939-1945“.

Die Geschichtswissenschaft und ihre Vermittlung blieben eine Sisyphusarbeit, sagte in einem abschließenden Kommentar Martin Aust, der als Professor für Osteuropäische Geschichte die Diskussionsrunde in den Rahmen seines Hauptseminars zur Geschichte des deutschen Vernichtungskrieges eingebunden hatte. Er wies darauf hin, dass die Sprachlosigkeit zwischen den politischen Lagern über Fragen der Geschichtsauffassung nicht allein ein polnisches Phänomen sei, sondern derzeit in vielen europäischen Gesellschaften beobachtet werden könne.

So brachte die Diskussion insgesamt eines deutlich zum Ausdruck: Auch wenn der Stein des Sisyphus wohl nie ganz oben ankommen wird, bleibt es notwendig, immer wieder das Gespräch über die Geschichte zu suchen, um die Distanzen zwischen den nationalen Geschichtsauffassungen, zwischen der wissenschaftlichen Sphäre und der breiteren Öffentlichkeit sowie zwischen lokaler Erinnerungsarbeit und nationalem Gedenken zu verringern.