Russland unter dem Blauhelm

Ein neues Forschungsprojekt am Deutschen Historischen Institut Moskau (DHI Moskau) widmet sich der russischen Beteiligung an UN-Missionen seit 1945. Es könnte zum Spiegel des außenpolitischen Engagements der Kremlführung werden und im historischen Rückblick sichtbar machen, wo multilaterales Miteinander einst gelang und woran es scheiterte.

Dieser Beitrag erschien erstmalig in der aktuellen Ausgabe unseres Magazins „Weltweit vor Ort“ 01/21.

Ein neues Forschungsprojekt am Deutschen Historischen Institut Moskau (DHI Moskau) widmet sich der russischen Beteiligung an UN-Missionen seit 1945. Es könnte zum Spiegel des außenpolitischen Engagements der Kremlführung werden und im historischen Rückblick sichtbar machen, wo multilaterales Miteinander einst gelang und woran es scheiterte.

Der Konflikt in der Westsahara ist in der Weltöffentlichkeit so gut wie vergessen. Dabei sichert dort seit rund 30 Jahren eine UN-Friedenstruppe den Waffenstillstand zwischen dem Königreich Marokko und der Guerilla-Armee Polisario. Diese sieht sich als Vertreter der in Westsahara lebenden Sahrawi, die ihre Unabhängigkeit von Marokko erreichen wollen. Die marokkanische Regierung will dagegen nur Autonomie anbieten, ein ursprünglich im UN-Prozess vorgesehenes Referendum über die Unabhängigkeit ist blockiert.

Der vergessene Westsahara-Konflikt, der ohne die Blauhelmtruppen der MINURSO jederzeit wieder eskalieren könnte, ist nur einer der vielen Brandherde, über den eine UN-Mission wacht und zumindest den Status quo sichert. Die umstrittene Region ist unter anderem wegen ihrer Rohstoffvorkommen von strategischem Interesse, schafft es aber nur selten in die Schlagzeilen.

Der Einsatz von Blauhelmen weltweit ist etwas in Vergessenheit geraten. Dabei dämmen sie gefährliche Konfliktherde ein, wie hier seit mehr als 30 Jahren in der Westsahara. Foto: Alexey Maishev.

Ebenso wenig im öffentlichen Bewusstsein ist, dass an diesen friedenssichernden Operationen der Vereinten Nationen auch Russland seinen Anteil hat. Die Kremlführung hat in den vergangenen Jahren mit ihrem umstrittenen militärischen Eingreifen in Syrien und dem verdeckten Krieg in der Ostukraine vergessen lassen, dass es seit den Zeiten der Sowjetunion eine Kontinuität des friedenssichernden russischen Engagements in anderen Regionen der Welt gibt.

„Russland als friedensschaffende oder friedenswahrende Macht, das passt oft nicht in unsere Vorstellungswelt“, sagt der Stellvertretende Leiter des DHI Moskau, Andreas Hilger. Dabei wirkt Moskau in vielfältiger Weise an solchen Friedenseinsätzen weltweit mit. Wie in der Westsahara sind zwar oft nur vereinzelte russische Militärbeobachter vor Ort und in ein international besetztes Team von Einsatzkräften eingebunden. Oder das Engagement beschränkt sich allein auf die finanzielle Unterstützung einer Mission. Von Bedeutung war meist vor allem Russlands Verhalten im UN-Sicherheitsrat, wo das Land ständiges Mitglied und deshalb an allen Entscheidungen beteiligt ist.

Das Engagement der Sowjetunion und heute Russlands in den UN sei bisher sehr wenig systematisch erforscht, stellt Hilger heraus. Er widmet diesem Thema deshalb ein neues Forschungsprojekt, das versucht, mehr Licht in die vielfältigen Aktivitäten Moskaus ab 1945 zu bringen. „Mich interessiert, inwieweit die Sowjetunion und später Russland dabei eine prägende Rolle spielen, wann sie sich kooperativ zeigen und welche eigenen Perspektiven für globale Probleme entwickelt wurden“, führt Hilger weiter aus.

Der Blick auf das UN-Engagement spiegelt das außenpolitische Agieren Russlands wider. Die Forschungsarbeit soll nun stärker herausarbeiten, wo russische Positionen die Agenda bestimmter UN-Missionen mitgeprägt haben, oder wie sich bestimmte Voten im UN-Sicherheitsrat ausgewirkt haben. Dazu Hilger: „Man hat eine internationale Geschichte nach 1945, die bestimmte thematische Stränge aufgreifen müsste: Was sind wesentliche Entwicklungen, was sind wesentliche Diskussionen auf globaler Ebene?“ Dabei werden Moskauer Positionen zum Nord-Süd-Konflikt ablesbar wie auch zu Umwelt- und Klimaschutzfragen oder anderen systemübergreifenden Themen. Hilger erhofft sich, dass dieses Forschungsprojekt darauf Antwort gibt, wo Russland sich in diesen global bedeutsamen Prozessen positioniert.

Wie bei dieser Blauhelm-Mission in der Westsahara wirken auch russische Militärbeobachter mitten in der Wüste in den internationalen Teams zur Friedenssicherung mit. Die MINURSO ist seit April 1991 in der Krisenregion stationiert. Foto: Alexey Maishev.

Die ersten Fallstudien befassen sich mit den Anfängen sowjetischer Beteiligungen während der 1950er Jahre im Nahen Osten, um gewisse Grundpositionen des Kalten Krieges zu ermitteln. Damals sei es vor allem um das Agieren der UdSSR als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat gegangen. „Die Sowjetunion konnte mit ihrem Veto immer alles blockieren oder eben auch nicht“, sagt Hilger. Es habe aber zunächst nicht bedeutet, dass eigene Militärs an UN-Operationen beteiligt wurden. Oft habe Moskau auch kein Geld zur Verfügung gestellt, um so Einfluss zu nehmen, ob ein UN-Einsatz zustande kam oder nicht. Damals stand alles ganz im Zeichen des Kalten Krieges.

Später habe es dann einzelne Militärbeobachter oder Zivilpersonal gegeben, die von Moskau entsandt wurden. Ab den späten 1980er Jahren bildete sich eine ganz neue Qualität von UN-Einsätzen heraus mit einem Fokus auf Asien und Afrika. Gleichzeitig repräsentiert die Gorbatschow-Ära ab 1985 einen wichtigen neuen Abschnitt sowjetischer Außenpolitik. „Diese Politik der Öffnung unter Gorbatschow zeigt sich natürlich auch in verschiedenen Ecken der Welt.“ Es habe neue gemeinsame UN-Missionen gegeben. „Kooperation und Zusammenwirken auf Augenhöhe. So wollte man an der Gestaltung einer neuen Welt mitwirken.

Besonders interessant seien die 1990er Jahre, sagt Hilger. „Diese Umbruchzeit rückt mehr in den Blick der Forschung, auch weil sich viele Chancen geboten haben.“ Damals habe sich Russland als neuer postsowjetischer Staat international ganz neu aufgestellt und sich zunächst pro-westlich orientiert. Nach Einschätzung des Moskauer Politologen Alexander Nikitin, der zu diesem Thema als wichtigster russischer Fachmann gilt, begann die Kremlführung ab 1990/91 zunächst jede UN-Mission zu unterstützen und das nicht nur politisch, sondern auch finanziell. An acht UN-Operationen nahmen in dieser Phase auch russische Militärbeobachter teil.

Ob mit dem Ende der Sowjetunion das neue Russland politisch einer Kontinuität folge oder sich durch andere politische Akzente vom früheren Staatenbund klar unterscheide, soll die weitere Forschung beantworten. Bisher ergebe sich da ein widersprüchliches Bild, betont Hilger.

Mehr als zehn Jahre lang dauerte die militärische Präsenz Russlands im zerfallenen Jugoslawien. Was 1992 mit einer aktiven Mitwirkung bei UNPROFOR in Kroatien begonnen hatte, ging ab 1996 weiter bei der IFOR (dann SFOR) in Bosnien-Herzegowina und ab 1999 bei der KFOR im Kosovo. Russland stellte laut Nikitin dabei von den Nichtmitgliedsstaaten der NATO das größte Kontingent für die Operationen. Durch die Führungsrolle der NATO kommt dieser Periode besondere Bedeutung zu, wozu das Forschungsprojekt einige neue Erkenntnisse bringen dürfte. „Trotz der Verschlechterung der westlich-russischen Beziehungen gab es damals noch Ansätze zur Zusammenarbeit“, sagt Hilger.

Russland entwickelte ab 1990 auch eigene Formen des Peacekeepings im postsowjetischen Raum, die eine gesonderte Betrachtung verdienten und nur in Teilen mit dem UN-Engagement verschränkt wurden, so Hilger. „In Tadschikistan, in Moldawien und Georgien sehen wir das und werden dazu interessante Einzelstudien machen.“ Dabei habe die Frage der Gefahr für die Sicherheitslage Russlands sehr stark im Vordergrund gestanden. „Da ging es oft um Regionalpolitik“, so Hilger.

Der Zeitraum ab 2000 und die großen Veränderungen seit dem Machtantritt von Präsident Wladimir Putin seien „zu junge Zeitgeschichte“, um in dem Forschungsprojekt noch ausreichend berücksichtigt werden zu können, sagt Hilger. „Da gibt die Aktenlage noch nicht viel her.“ Trotz der schwierigen Archivbedingungen für Themen der jüngeren Zeitgeschichte in Russland zeigt sich Hilger optimistisch. Türöffner seien immer wichtig.

„Wenn man über Kontakte oder Empfehlungen kommt, kann man immer noch profunde Gespräche führen.“ Die Aktenlage sei für diese Zeit in den russischen Archiven generell schwierig, vor allem auch der Zugang zum Archiv des russischen Außenministeriums. Allein die Aktenzuteilung benötige viel Zeit. Für die Gorbatschow-Ära sei es leichter, weil die Gorbatschow-Stiftung da viel bereithalte und für Forscher gut zugänglich sei. Es gebe zwar keine vergleichbare Jelzin-Stiftung, aber noch viele Ansprechpartner und Zeitzeugen. Einen guten Umweg böten oft die Archive anderer früherer Sowjetrepubliken, die offener arbeiteten. Außerdem könne auf Material aus westlichen und UN-Archiven zurückgegriffen werden. „Es gibt hier im Land Zeitzeugen, die noch alle greifbar sind.“ Das seien vor allem hochrangige Militärs, Diplomaten und andere Akteure. „Deshalb ist es von der Quellenlage durchaus realistisch, dass man da weiterkommt.“

 

Im Juni 2001 besuchte Präsident Wladimir Putin die russischen Blauhelmsoldaten im Kosovo, bei denen Russland mit einem starken Kontingent beteiligt war.

Wegen Corona auf Herbst 2021 verschoben wurde eine Konferenz, in der internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie politische Akteurinnen und Akteure in Moskau zusammenkommen und sich dem Thema „Frieden und Sicherheit in Zeiten des Übergangs. Sozialistische und postsozialistische Staaten und die Entwicklung internationalen Peacekeepings seit 1945“ widmen. Dabei werden postsowjetische Konflikte wie in Abchasien oder Transnistrien ebenso eine Rolle spielen wie die internationale Zusammenarbeit bei gemeinsamen UN-Missionen. Die Entlegenheit einer Region wie die Westsahara erleichtere die Zusammenarbeit, ist eine von Hilgers Thesen. Je näher ein Konflikt an Russland heranrücke, umso mehr steige die Bereitschaft zur autonomen Herangehensweise.

Hilger erwartet von dem Projekt, dass es auch noch mal Aufschluss darüber gibt, wo ungenutzte Chancen zwischen Russland und den westlichen Staaten lagen. Ihn  interessieren dabei insbesondere Ansätze, die nicht verfolgt oder abgebrochen wurden – gerade auch auf der russischen Seite.

Ein Museum in Moskau betreibt die Traditionspflege der UN-Missionen. Es wurde 1996 gegründet, veranstaltet Ausstellungen und bietet ein Einladungsprogramm für Schulklassen an. In Russland widmet sich darüber hinaus heute noch vor allem der in Moskau ansässige Veteranenverband mit Liebe und Engagement der Erinnerung an erfolgreiche UN-Einsätze. In einem Blog und auf der Facebook-Seite tauschen sich früher einmal entsandte Militärbeobachter über ihre einstige UN-Mission aus, diskutieren Militärstrategien und teilen politische Einschätzungen. „Dieses Bewusstsein, wir haben dort ja Ruhe geschaffen“, werde in vielen Kommentaren deutlich, stellt Hilger heraus. Zahlreiche Veteranen beschäftige, dass sie stolz seien auf ihre Leistung vor Ort, diese aber zu wenig gewürdigt sähen – auch weil es in der russischen Öffentlichkeit eigentlich kein Thema mehr ist. Die russischen Veteranen folgen einem Motto, das überall die Blauhelme verbindet. Es wurde vom früheren UN-Generalsekretär und schwedischen Friedensnobelpreisträger Dag Hammarskjöld einst so formuliert: „Peacekeeping ist kein Job für Soldaten, aber nur Soldaten können ihn ausführen.“

Text von Gemma Pörzgen

Andreas Hilger ist Historiker und Stellvertretender Direktor des DHI Moskau. Seine Forschungsinteressen umfassen die Geschichte der internationalen Beziehungen sowie die deutsche, russische und südasiatische Geschichte seit dem 19. Jahrhundert. Der Titel seines jüngsten Forschungsprojektes lautet: „Vom Internationalismus zur Multipolarität – UdSSR/Russland und Internationales Peacekeeping“.

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